Im
Johannesevangelium zeichnet der Evangelist einen immer deutlicher
werdenden Konflikt zwischen Jesus und manchen jüdischen Autoritäten, der
dann letztlich in die Auslieferung an Pilatus mündet. Nachdem er die
Steinigung einer Ehebrecherin verhindert hat mit den Worten: “Wer von
euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein” (Joh 8,7), wird von
verschiedenen Auseinandersetzungen erzählt. Jesus spricht über sich
selbst, sein Verhältnis zum Vater und über die Taten der “Juden”
(gemeint sind wohl Sadduzäer und Pharisäer). Mehr und mehr spitzt sich
die Debatte zu, und nun wollen sie ihn steinigen, sie haben nämlich die
Steine schon in der Hand (Joh 8,59; 10,31). Sie werfen ihm
Gotteslästerung vor, Religionsfrevel. Was zunächst noch eine
Auseinandersetzung um Gesetzesauslegung war, wird nun zu einer direkten,
persönlichen Konfrontation. Jesus geht ihr nicht aus dem Weg. Obwohl er
um die Gefahr weiß, geht er nach Jerusalem (Joh 11,8).
Die
Steinigung ist in vielen alten Religionen belegt. Sie ist für schwere
religiöse Vergehen vorgesehen. Damit soll alles Unreine aus dem Volk
entfernt werden. Die Aufgabe einer kultischen Religion ist ja, die
Gläubigen rein zu machen und so für die Begegnung mit Gott
vorzubereiten. Jene, die nicht zur Glaubensgemeinschaft gehören, sind
unrein. So zumindest die Vorstellung. In manchen Teilen der Erde wird
sie heute noch oder sogar wieder praktiziert, obwohl sie uns zurecht
völlig unzeitgemäß scheint.
Obwohl
wir Steinigungen für barbarisch halten und völlig ablehnen, hat die
moderne Gesellschaft viele Formen gefunden, Menschen auf andere Weise
vorzuführen und zu “steinigen”, etwa im Gespräch, beim Tratschen
hintenherum, über die Medien oder im Internet.
Das
geschieht aus religiösen Motiven, so wenden sich fundamentalistische
Moslems in vielen Teilen der Welt gegen Christen und andere Gläubige,
Atheisten und säkulare Menschen gegen gläubige, aber auch Christen gegen
die Angehörigen anderer Konfessionen oder sogar katholische, orthodoxe
oder evangelische Gläubige gegeneinander. Und das Motiv ist immer das
gleiche: die “richtigen” Gläubigen wollen die “falschen” Gläubigen
entfernen, ja vernichten. Wo Menschen glauben, gibt es
Auseinandersetzungen um den rechten Glauben. Und weil es beim Glauben um
eine existentielle Sache geht, gehen die Konfrontationen tief ins
Persönliche.
Das
geschieht aber auch in der Gesellschaft, so bekämpfen einander die
Angehörigen verschiedener politischer Gruppierungen, unterschiedlicher
Nationalitäten und Schichten, Inländer und Ausländer, Nachbarn, Reiche
und Arme, Frauen und Männer, Junge und Alte, Partner und Expartner,
Menschen mit verschiedenen Ansichten und Gefühlen usw. Auch hier ist die
Motivation im Grunde dieselbe: die “Richtigen” wollen die “Falschen”
entfernen. Die Unterscheidung von “rein” und “unrein”, “drinnen” und
“draußen”, “richtig” und “falsch” spielt in der Religion deshalb eine
Rolle, weil sie urmenschlich ist.
Die
Botschaft Jesu geht über diese Unterscheidung hinaus. Gott “lässt seine
Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte
und Ungerechte” (Mt 5,45). Die Feindes- und Nächstenliebe ist sehr
schwer. Sie ist aber geboten, weil Gott alle Menschen liebt. Christen
sollen vollkommen sein, wie Gott vollkommen ist (Mt 5,47). Ein erster
Schritt dorthin ist, die Steine niederzulegen und nicht auf die anderen
zu werfen.